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Essay

Hauptsache gesund?

Wollen wir möglichst viele Tage in unserem Leben – oder möglichst viel Leben in unseren Tagen? Der Philosoph und Publizist Ludwig Hasler über Sterben und Leben in Zeiten von Corona. Ein Essay.

«Bleiben Sie gesund!» Zum Abschluss fast jeder E-Mail, auch im Abspann von Radio- und Fernsehsendungen permanent der Refrain: «Und vor allem: Bliibed Si gsund!» Vor allem? Ist das ein Befehl? Ungesund sein verboten? 

Wenn wenigstens Gesundheit gemeint wäre. Doch gemeint ist in dieser Seuchenzeit: Bleiben Sie verschont vor Covid-19! Genauer: vor dem möglichen Tod. Also: Bleiben Sie gefälligst am Leben, bleiben Sie unter uns! Wir mögen es hier nicht, wenn gestorben wird. Uns reichte es, die Särge in Bergamo zu sehen, die Leichensäcke auf Kühllastern in New York. Bleiben Sie gesund!

«Im Grunde glaubt niemand an den eigenen Tod», sagte Sigmund Freud. Also leben wir gern, als lebten wir ewig. Es sterben ja stets die anderen. Auch in seuchenfreien Zeiten sind es in der Schweiz monatlich gegen 1200 Menschen über 65, die waren halt krank, alt, das ist normal, das passiert meist im Schatten der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Mit Covid-19 wurde das Sterben öffentlich. Alle können drankommen, deren Immunkräfte schwinden (wer weiss das schon so genau?), im Alter passiert das sowieso. 

Wer über 80 ist, rechnet zwar klugerweise ohnehin mit dem Tod, es gibt in der Schweiz 450 000 in dieser Risikoklasse, viele von ihnen sind längst nicht mehr gesund, ohne ausgeklügelte Medizin wären sie tot. Doch eben weil Medizin unsere Aufenthaltsfrist so erfolgreich verlängert, ist der Tod nicht mehr Schicksal, er darf nicht passieren – und falls er doch passiert, hat jemand versagt, die Ärzte, die Politik, die Gesellschaft.

Hauptsache gesund, bedeutet dann: Hauptsache, wir leben weiter. Wollen wir das wirklich als Hauptsache gelten lassen? Stellen wir uns nicht mehr die alten klugen Selbstüberprüfungsfragen? Was genau will ich: möglichst viele Tage in meinem Leben – oder möglichst viel Leben in meinen Tagen? Ich, 76, mit angeschlagener Lunge, bin nicht lebensmüde, der Tod käme mir ungelegen. Doch um jeden Preis eine Zeit lang weiterleben? Um des blossen nackten Lebens willen? Im Tod den Todfeind sehen? Können wir nicht sterben, weil wir in der säkularisierten Gesellschaft nichts haben, was über den Tod hinaus weist? Weil der Tod nicht Durchgang ist, sondern Endstation?

Die sogenannt letzten Fragen (woher kommen wir, wohin gehe ich?) sind heute nicht mehr gross im Spiel. Antworten kennen wir ohnehin keine (ich auch nicht). Wir leben dahin, als gäbe es gar keine Fragen, wenn es ums Letzte geht. Schluss ist Schluss – fragt sich nur: Wie lange noch nicht? Korrekterweise ist der Schluss ja der absolute Skandal, er dürfte gar nie eintreten, weil dann ist definitiv Schluss mit mir, und ich bin mir nicht nur der Nächste, ich bin mir das Wichtigste, das Zentrum meiner Welt, daran haben wir uns im Laufe der Moderne gewöhnt. 

Wenn das so ist, wenn es für mich nichts Bedeutenderes gibt als mich selbst, dann habe ich im Alter schlechte Aussichten. Medizin und Bundesrat mögen alles tun, damit ich noch eine Runde anhängen darf: Das Ich bleibt endlich, es schrumpft, es serbelt, es ist – letztlich – nicht zu retten.

Nein, keine Osterpredigt. Nur schwer stelle ich mir (meine) Auferstehung vor, die Ewigkeit danach erst recht. Dass aber der Tod einfach Päng macht – und danach ist nichts, damit müssen wir erst zurechtkommen. In allen Kulturen bisher war das Alter keine Endstation, und das Sterben kein Schlusspunkt, sondern ein Zwischenereignis, Übergang von der endlichen Existenz in eine andere, unbekannte. Darum war die Dauer des irdischen Aufenthaltes eher nebensächlich, Hauptsache, man hatte gute Karten für das Reich der 

Ahnen, für Walhall, fürs Paradies, für den Himmel. Kindermärchen? Stets auch die Hoffnung, es gebe noch etwas Grösseres als unseren irdischen Betrieb. Die Erinnerung daran, dass es mehr Leben gibt, als wir gerade leben, geheimnisvolle Quellen der Kraft, der Lust, des Rätsels, des Rausches, der Stille, der Schönheit. So konnte sich dem Alter eine Dimension eröffnen, gegen die jede Kreuzfahrt bieder wirkt. Das alternde Ich kam ins Gespräch mit der grossen Kolonie der Unsichtbaren, die uns beobachten, vielleicht erwarten. Keine Kultur ohne das Gespräch mit den Toten, ohne rituelle Verbindung mit den Abwesenden, Abgetretenen, Unsichtbaren. Schon mal da anklopfen, wo wir selber demnächst uns finden werden. Eine Antenne für Transzendenz ausfahren. 

So war es für meine Grosseltern, noch für meine Eltern. Und heute? Wer unterhält noch ein Verhältnis zum Unsichtbaren? Wem ist es egal? Wer vermisst es? Können wir gelassen alt werden ohne das Unsichtbare? Können wir – mit Epikur – sagen: «Das schauerlichste Übel, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.» Tönt logisch, auch beruhigend. Bloss sah Epikur unsere Reaktion nicht voraus: Gerade weil wir im Tod nicht mehr existieren,

«Sterben ist wieder geworden, was es immer war: Schicksal»

fahren wir gegen den Tod stets gröbere Geschütze auf, damit wir am Existieren bleiben. Ohne metaphysische Dimension kann Altern anstrengend werden.

Mit dem Virus erst recht. Es setzt genau das ausser Kraft, was wir dem Tod entgegensetzen: unsere Kontrollvernunft, unser Aufgebot gegen das Schicksal, namentlich die medizinische Kunst. Gegen den Tod bleibt sie letztlich ohnmächtig, das mussten wir schon bisher einräumen. Immerhin stärkte sie den Glauben, wir könnten unser Sterben steuern. Den Krebs «besiegt» Medizin keineswegs, den Krebstod schiebt sie jedoch stets erfolgreicher hinaus: Heute sterben mehr Menschen mit Krebs als an ihm. Dito Diabetes, Herz- und Lungenleiden. In dieser Phase des Todesaufschubs hängen wir allerdings an Pharma und Spezialmedizin, die eigene Immunabwehr taugt nicht mehr viel. Genau da schlägt Covid-19 ein, trifft die Immunschwachen – und damit unsere Hoffnung auf steuerbares Sterben.

Sterben ist wieder geworden, was es immer war: Schicksal. Das fällt leichter mit einer Perspektive über mich hinaus. Bin ich mir selbst das Zentrum meiner Welt, kann ich schlecht sterben, da mit mir ja alles verschwindet, woran mir liegt. Der grösste Feind gut-gelaunten Alterns und tröstlichen Sterbens ist das Spiessertum. Spiesser interessieren sich einzig für sich, sie tun so, als seien sie von Ewigkeitswert, und kommen am Ende jämmerlich in ihrer Hinfälligkeit an. Im späten Alter haben wir wohl nicht viel mehr als den Film unseres eigenen Lebens. Und? Hat er was zu bieten? Auflehnung, Drama, Aufschwünge, Abstürze? «Ich bedaure einzig, zu wenig gesündigt zu haben», sagte Margarete Mitscherlich, als sie 92 wurde. 

Die grosse alte Dame der deutschen Psychoanalyse sah das so: Niemand könne im Alter stolz darauf sein, allen Verführungen aus dem Weg gegangen, allen Widerständen glimpflich ausgewichen zu sein. Wer will schon bloss über die Runden gekommen sein – im Status Schontyp? Möchten wir nicht alle eine Geschichte hinter uns haben, unsere Geschichte, wir als Akteure, nicht bloss Funktionen? So könnten wir im Alter heiter zurückblicken: Wir haben unser Leben mit Leidenschaft geführt, nicht nur mit Fachkompetenzen verwaltet.

Das wäre das schiere Gegenteil zu «Hauptsache gesund». Statt ängstlich auf Selbsterhalt zu schielen (Plato: Sich ständig um seine Gesundheit sorgen, ist auch eine Krankheit): Engagiert mitwirken an unserer gemeinsamen Geschichte, im Unternehmen, Quartier, in der Branche, in der Politik – das stärkt, nicht mit Protein-shakes, sondern mit Sinnhaftigkeit. Sehe ich mich so mittendrin, als kleinen Akteur im Welttheater, kann ich getrost mal abtreten – ohne mich vor der Frage «Glaubst du an so etwas wie das ewige Leben?» zu drücken: Klar. Muss ja nicht meines sein. Ganz im Sinne Bertold Brechts, der am Vorabend seines Todes notierte: «Schon seit geraumer Zeit / Hatte ich keine Todesfurcht mehr. Da ja nichts / Mir je fehlen kann, vorausgesetzt / Ich selber fehle. Jetzt / Gelang es mir, mich zu freuen / Alles Amselgesanges nach mir auch.»

Gesund bleiben? Am Leben dranbleiben. Verschwenden wir unsere Kräfte an eine Zukunft, die uns überdauern wird. Das kann uns sogar gesund halten.

Der Philosoph und Publizist Ludwig Hasler ist Autor des philosophischen Bestsellers «Für ein Alter, das noch was vorhat».

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