«Der Reichtum an Formen und Farben ist unglaublich»: Estelle Gassmann in ihrem Atelier in Zürich.
«Der Reichtum an Formen und Farben ist unglaublich»: Estelle Gassmann in ihrem Atelier in Zürich. (Jorma Müller)
Textildesign

Träume aus dem Meer

Die Zürcher Textildesignerin und Künstlerin Estelle Gassmann ist fasziniert von Algen. Auf feiner Bettwäsche erblühen sie in ihrem Atelier zu poetischen Gewächsen.

Text: Ulrike Hark

Algen? Das ist doch dieser schlüpfrige Seetang! Was da zwischen Wasser und Ufer hin- und herschwappt, stört normalerweise unser Auge, denn das sucht den reinen Sandstrand.

Gut, gibt es Estelle Gassmann, die einem die Augen öffnet und zeigt, welche Schönheit sich da verbirgt. «Der Reichtum an Formen und Farben ist einfach unglaublich. Wenn man genau hinschaut, haben Algen viel künstlerisches Potenzial», sagt sie. Grün leuchtet etwa die «gemeine Gabelzunge», auberginenfarben dämmert der «Lappentang» vor sich hin. Und beim langsamen Verwesungsprozess reicht das Farbspektrum von Altrosa bis Pink.

Wir sitzen im Gemeinschafts-Atelier an der Neugasse in Zürich, einer Mischung aus Alchemistenküche, Künstlerrefugium und Shop, wo Estelle Gassmann ihre Kollektionen auch verkauft. Ringsum ist Bettwäsche ausgestellt, in den Regalen stehen Teller und Schälchen aus Porzellan mit zarten floralen Motiven. Produkte für den Alltag mit einem ungewöhnlichen optischen Twist, der gern mal ins Surreale driftet. Keramik? Estelle Gassmanns Fantasie und Experimentierlust ist schlicht zu gross, um bei Textilien halt zu machen.

«Ich war begeistert von der Schönheit und Fragilität dieser Gewächse und wollte unbedingt wissen, wie man sie präpariert.»

Ihre Liebe zu den Algen entdeckte sie, als sie auf die Arbeiten des Künstlers und Algologen Américo Teles stiess. Das war vor vier Jahren. «Ich war begeistert von der Schönheit und Fragilität dieser Gewächse und wollte unbedingt wissen, wie man sie präpariert.» Ein Workshop in Porto eröffnete ihr dann eine neue Welt. Und schon bald wurde ihr klar, dass Algen ein wunderbares Motiv für Bettwäsche sind. Sie wogen in der Strömung hin und her, wiegen sich zwischen Ebbe und Flut, vergleichbar mit dem träumerischen Zustand zwischen Wachsein und Schlaf.

Tagelang durchs Wasser gewatet und Algen gesammelt

Doch die wirkliche Reise ins Reich der Algen-Träume sollte für die Designerin erst noch beginnen. Im Sommer 2018 begleitet sie eine Gruppe Biologiestudenten bei einer Exkursion nach Roscoff in die Bretagne. «Wir haben an der Station Biologique gearbeitet. Tagelang bin ich durchs Wasser gewatet und habe Algen gesammelt.»

Estelle Gassmann beim Algensammeln in Roscoff.
Estelle Gassmann beim Algensammeln in Roscoff. (Jorma Müller)

Die Fundstücke lässt sie zuhause im Wasser wieder aufblühen, sie studiert ihre Formen und Beschaffenheit. Feinste Verästelungen werden sichtbar, sogar kleine Schneckenhäuschen, die sich an den Algen festhalten. Sie breitet sie auf eingenässtem Papier aus, bedeckt sie mit einer Schicht Gaze und presst sie zwischen Zeitungspapier und Büchern. Anschliessend scannt sie die Motive ein und schafft daraus im Photoshop vier verschiedene Kompositionen. Im Digitalprint-Verfahren werden die Sujets dann auf Baumwollsatin gedruckt, den die Designerin in Norditalien weben lässt. Genäht wird die Bettwäsche im vorarlbergischen Dornbirn.

«Etwas Vorgefundenes verändern und dem bekannten Bild ein neues hinzufügen, ihm eine andere Ästhetik entlocken»

Den Start für eine erste Kollektion Bett- und Tischwäsche machte Estelle Gassmann bereits vor einigen Jahren mit «Embedded Stories» – auf Geschichten gebettet. Fundstücke aus dem Alltag spielten dabei die wesentliche Rolle, gefundene Blüten oder zerknüllte Schoggipapierli vom Trottoir zum Beispiel. «Fremde» Bildmotive, die in einem neuen Kontext ihren Reiz ausspielen und wie zufällig wirken, obwohl sie fein arrangiert worden sind. «Etwas Vorgefundenes verändern und dem bekannten Bild ein neues hinzufügen, ihm eine andere Ästhetik entlocken», das reizt sie. Die Blüten etwa hat sie vor dem Einscannen gequetscht, damit sie ihre Form veränderten. So finden Dinge aus dem Alltag als serielle Stücke in unseren Alltag zurück und behalten doch die Eigenwilligkeit des Unikats. Gestalterisch geht Gassmann ihren ganz eigenen Weg, direkte Vorbilder hat sie keine. «Wer mich beeindruckt, ist Hella Jongerius», sagt sie. Die renommierte niederländische Designerin ist bekannt für ihre ungewöhnlichen Szenerien – sie verbindet Traditionelles und Modernes, mischt altes Handwerk mit Hightech.

Wandbilder aus Porzellan mit reliefartigen Vertiefungen

In ihren Kunstobjekten aus Keramik spannt Estelle Gassmann den kreativen Bogen noch weiter – der Brennofen im Atelier ist oft in Betrieb. Manchmal fügt sie Porzellantellern aus dem Brockenhaus konträre Materialien hinzu und schafft so märchenhaft anmutende Kreationen. Keramikschalen etwa, die ihre «Hände» wie kleine Plattformen in den Himmel strecken und auf etwas zu warten scheinen, das von oben kommt. Man kann das zauberhafte Ding einfach nur schmunzelnd betrachten, aber auch nutzen: «Apéro-Gebäck oder Pralinés kann man darauf attraktiv anrichten», sagt Estelle Gassmann.

Ihre Wandbilder aus Porzellan dagegen wollen nicht genutzt, sondern nur betrachtet werden. Sie verführen mit subtilen Weisstönen und reliefartigen Vertiefungen, die wie Spuren durch den Schnee ziehen. Eine Technik, die Estelle Gassmann während ihres Gastaufenthaltes in China kennenlernte.

Textilien und Keramik

Die 39-jährige Schweizerin studierte Textildesign an der Fachhochschule in Luzern. Seit 2006 lebt und arbeitet sie als selbstständige Designerin und Künstlerin in Zürich. Ihre bevorzugten Materialien sind Textilien und Keramik. Das Hauptinteresse gilt dem Motiv und Material, aber auch den Menschen, die auf den meist jahrelangen Wegen zu einer Produktion in den Arbeitsprozess involviert sind. Ihre Arbeiten befinden sich in den öffentlichen Sammlungen vom Museum für Gestaltung Zürich, dem Musée Ariana in Genf und JAEA International Art Center im chinesischen Jingdezhen. Gastaufenthalte führten sie nach Portugal, in die Niederlande und nach China. Estelle Gassmann lebt in einer WG im Zürcher Kreis 6.

Kunstobjekte und kommerzielle Produkte – wie schafft sie diesen Spagat? Spaziert man an der Zürcher Neugasse durch die Welt der Estelle Gassmann, fragt man sich, ob es wirklich so leicht ist, zwischen den beiden Polen hin und her zu pendeln, wie es aussieht. «Es kostet schon Energie, aber es ist auch bereichernd, mehr als nur eine Klaviatur zu bespielen», meint sie. Auf den einen oder anderen Bereich definitiv festlegen will sie sich zurzeit nicht. «Aber es ist gut möglich, dass ich mich irgendwann doch für die Kunst entscheide.»

«Es kostet schon Energie, aber es ist auch bereichernd, mehr als nur eine Klaviatur zu bespielen»

Was eigentlich schade wäre. Gerade das poetische Zwischenreich, in dem sie sich wie ein Fisch im Wasser tummelt, fasziniert ihre treue Kundschaft. Ein Beispiel fällt uns zum Schluss des Werkstattbesuchs auf: eine flache Käseplatte aus Porzellan. Merkwürdig, dass sich an einer Ecke eine unerklärliche Kante erhebt. Was macht die da? Ihre Funktion wird klar, wenn ein Stück Käse auf der Platte liegt. Der einsame Rand wirkt als Rückwand. Er ist eine humorvolle Geste – und eine Bühne für den Käse.

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