Täuschend echt: Die Würste des amerikanischen 
Nahrungsmittelkonzerns Beyond Meat.
Täuschend echt: Die Würste des amerikanischen Nahrungsmittelkonzerns Beyond Meat.

Poulet aus Pflanzen und Pilzen

Fleischersatz gilt als einer der grössten Zukunftsmärkte. Veganer, Vegetarier und Flexitarier könnenaber schön heute auf eine riesige Auswahl an Produkten zugreifen.

Marius Leutenegger

Gesundheit, Klima, Tierschutz: Der Fleischkonsum tangiert gleich mehrere Themen, die unsere Gesellschaft heute bewegen.

Gehörte man vor zwanzig Jahren noch zur Minderheit, wenn man sich vegetarisch ernährte, muss man sich als Fleischesser heute zuweilen wie ein rücksichtloser Egoist fühlen. Ein Fleischburger etwa belastet die Umwelt sechsmal mehr als ein Burger aus Gemüse.

«Für den Gesamtmarkt bedeutender sind aber die 20,5 Prozent der sogenannten Flexitarier, die häufig auf Fleisch verzichten.»

Die vielen Argumente der Gegner von Fleischkonsum tragen Früchte. Seit Jahren wird in der Schweiz immer weniger Fleisch gegessen. Zwischen 2010 und 2019 ging der Verbrauch um etwa drei Prozent zurück und liegt heute bei knapp fünfzig Kilo pro Kopf. Mittlerweile sind 5,8 Prozent der Schweizer Bevölkerung Vegetarier, das sind etwa dreimal mehr als noch vor dreissig Jahren. 2,6 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer essen sogar vegan und nehmen überhaupt keine tierischen Produkte zu sich, also auch keinen Käse und keine Eier. Für den Gesamtmarkt bedeutender sind aber die 20,5 Prozent der sogenannten Flexitarier, die häufig auf Fleisch verzichten. Dass diese Gruppe langsam, aber stetig wächst, dürfte auch damit zusammenhängen, dass es noch nie so leicht war wie heute, auf Ersatzprodukte umzusteigen. Eine Wurst muss nicht mehr aus Fleisch bestehen und schmeckt trotzdem.

Der Klassiker beim Fleischersatz: Bei Tofu wird das Protein aus der Sojapflanze gewonnen.
Der Klassiker beim Fleischersatz: Bei Tofu wird das Protein aus der Sojapflanze gewonnen.

Noch fristet der Fleischersatz ein Nischendasein. Doch er gilt im Lebensmittelbereich als der Zukunftsmarkt schlechthin. Die Unternehmensberatung A.T. Kearney geht davon aus, dass die Ersatzprodukte im Jahr 2040 rund sechzig Prozent des globalen Fleischmarkts von etwa 1800 Milliarden US-Dollar abdecken werden. Das Imitat wird dann also mehr Umsatz generieren als das Original. Ein Zeichen dafür, dass es tatsächlich so weit kommen könnte, ist die Tatsache, dass sich die grossen Lebensmittelkonzerne gute Ausgangspositionen schaffen. Gegenwärtig arbeiten etwa bei Nestlé rund ein Zehntel des Personals in Forschung und Entwicklung von pflanzenbasierten Fleisch-, Fisch- und Milchalternativen. Optimismus verströmt auch der Start-up-Bereich, wo Fleischimitat-Hersteller wie das amerikanische Unternehmen Beyond Meat sagenhafte Erfolgskurven präsentieren und Investoren anlocken.

Auch aus Knollensellerie lässt sich Fleischersatz herstellen

Natürlich wird nicht jeder Fleischersatz künftig viel Geld bringen. Grundsätzlich lassen sich die Alternativen vier Gruppen zuordnen. Erstens können Pilze, Früchte oder Gemüsesorten so zubereitet werden, dass sie in Geschmack und Konsistenz dem Fleisch ähnlich sind. Der Schwefelporling zum Beispiel, ein auch bei uns häufig vorkommender Pilz, schmeckt gegart wie Hühnchen. Der Klassiker ist aber Knollensellerie, mit dem sich zum Beispiel ein veganes Gordon bleu herstellen lässt.

Eine zweite Gruppe von Fleischersatz bilden Produkte aus Getreide oder Gemüse, die ähnlich wie Käse hergestellt werden. Dabei wird Protein, etwa von Weizen oder Soja, mittels Gerinnung ausgeschieden und dann gesammelt. Endprodukte sind dann zum Beispiel Seitan oder Tofu; auch das sind Klassiker, die es schon lang gibt und die heute allenfalls noch optimiert werden.

Neue Technologie: Das Schweizer Start-up «Planted» verwendet Erbsen für seine Fleischimitate.
Neue Technologie: Das Schweizer Start-up «Planted» verwendet Erbsen für seine Fleischimitate.
Pilz statt Fleisch: Pouletgeschnetzeltes aus Schwefelporing
Pilz statt Fleisch: Pouletgeschnetzeltes aus Schwefelporing

Die dritte, viel modernere Gruppe sind Produkte, die Fleisch möglichst täuschend nachahmen. Auch sie basieren meistens auf Pflanzen- oder Pilzprotein; dieses wird aber so behandelt, dass es seine kugelförmige Struktur verliert und so faserig wird wie Fleisch. Dies geschieht in der Regel durch ein Extrusionsverfahren. Dabei wird eine dickflüssige Masse mit viel Druck durch eine Düse gepresst. Ein berühmtes Produkt, das auf diese Weise entsteht, ist Quorn auf Pilzbasis. Im zürcherischen Kemptthal wandelt das Start-up-Unternehmen Planted Erbensprotein zu einem Hühnerfleisch-Imitiat um, das als «Planted Chicken» bereits den Weg in die Kühlregale von Migros und Coop gefunden hat.

Fleischersatz aus Fleisch, das im Labor gezüchtet wird

Und dann gibt es noch eine vierte Gruppe, die ein besonders grosses Potenzial aufweist: Fleischersatz aus Fleisch, das im Labor gezüchtet wird. Dabei entnimmt man einem Tier muskuläre Stammzellen und legt diese in eine Nährlösung aus Zucker, Aminosäuren, Mineralien und Vitaminen. Hinzu kommt Wachstumsserum aus dem Blut eines lebenden Embryos. Das alles klingt nach Frankenstein und scheint einfacher, als es tatsächlich ist; im grossen Stil lässt sich Laborfleisch bislang noch nicht produzieren. Die Sache ist auch noch sehr teuer. Als 2013 der erste In-Vitro-Burger präsentiert wurde, soll er noch rund 330 000 US-Dollar gekostet haben, mittlerweile liegen die Ausgaben bei ein paar Hundert Dollar pro Stück.

Das Steak aus dem 3-D-Drucker

Das Start-up Redefine Meat hat sich auf die Entwicklung von Fleischimitaten spezialisiert. Das Besondere an den Produkten des israelischen Jungunternehmens ist, dass sie genauso aussehen wie echtes Fleisch. Mittels Extrusionsverfahren – bei dem sich pflanzliches Protein in fleischähnliche Fasern verwandelt – werden mehrere Ausgangsmaterialien verarbeitet, darunter Soja, Erbsen, Kokosnussfett und Sonnenblumenöl. Mittels 3-D-Drucker werden die Lebensmittel dann zusammengeführt.

Dabei wird «Muskelfleisch», «Fett» und «Blut» so angeordnet, dass je nach Wunsch zum Beispiel ein Entercôte oder ein Rumpsteak imitiert wird. Der 3-D-Drucker kann heute rund hundert Kilogramm Fleischersatz pro Stunde herstellen. Redefine Meat hat sich aber zum Ziel gesetzt, bis 2030 das weltweit grösste Unternehmen für alternatives Fleisch zu werden.

Doch die Technologie macht schnelle Fortschritte. Als führend gilt zurzeit das niederländische Unternehmen Mosa Meat, das den erwähnten ersten In-Vitro-Burger herstellte. Die Bell Food Group, Schweizer Marktführerin bei der Fleischverarbeitung, beteiligte sich bereits 2018 mit zwei Millionen Euro am Start-up. Jetzt hat das Basler Unternehmen noch einmal fünf Millionen Euro für den Bau einer industriellen Produktionsanlage investiert. Mosa Meat strebt für 2022 die Zulassung des Fleisches aus der Petrischale für den europäischen Markt an.

«Als 2013 der erste In-Vitro-Burger präsentiert wurde, soll er noch rund 330 000 US-Dollar gekostet haben, mittlerweile liegen die Ausgaben bei ein paar Hundert Dollar pro Stück.»

Das die Imitate Bewegung in den Fleischmarkt bringen, ist eine gute Nachricht. Denn die Aussage, der Fleischkonsum gehe generell zurück, gilt nur für unsere Breitengrade. Global weist die Nachfrage nach Fleisch stark nach oben. Zwischen 1990 und 2018 stieg der Konsum von 33,5 auf 42,9 Kilogramm pro Kopf. Laut der Industrieländerorganisation OECD wird der Fleischkonsum in Afrika und Asien die Produktion bald übertreffen; diese Kontinente können dann nicht mehr genügend Fleisch bereitstellen, um die Bedürfnisse ihrer schnell wachsenden Bevölkerung zu befriedigen.

Bereits heute beansprucht die Tierhaltung weltweit 78 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Im Moment gibt es rund um die Welt weit über eine Milliarde Rinder. Etwa neunzig Prozent aller Säugetiere auf der Welt leben einzig, um geschlachtet zu werden. Viel mehr Fleisch liegt also ganz simpel betrachtet nicht mehr drin – und Ersatzprodukte werden zur schlichten Notwendigkeit. Da wird der von Fleischessern oft gehörte Einwand, es solle doch gefälligst echtes Fleisch essen, wer Fleisch wolle, zum Unsinn: Das geht in absehbarer Zukunft nicht mehr.

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