«Qualitativ ist unser Gesundheitssystem hervorragend»: Thomas Boyer
«Qualitativ ist unser Gesundheitssystem hervorragend»: Thomas Boyer (Sébastien Anex)
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«Es gibt zu viele Spitäler in der Schweiz»

Thomas Boyer, Chef der Groupe Mutuel, über drohende Prämienerhöhungen, die Qualität unseres Gesundheitssystem und seine persönliche Vorsorge.

Martin Spieler

Erstmals seit 2008 haben wir sinkende Krankenkassenprämien: Ist das nur eine temporäre Erscheinung oder erleben wir eine Trendwende?
Dass die Prämien sinken, ist im Kontext der Covid-Pandemie bemerkenswert und erfreulich. Man musste damit rechnen, dass das Gegenteil passiert.

In den letzten Jahren waren die Gesundheitskosten unabhängig von Covid nicht mehr so stark in die Höhe gegangen wie in der Vergangenheit. Das ist ein ermutigendes Zeichen. Trotzdem sehe ich weder beim Anstieg der Gesundheitskosten noch bei der Prämienentwicklung eine Trendwende. Corona hat dazu geführt, dass medizinische Behandlungen teilweise nicht durchgeführt wurden. Die Kosten dürften wieder steigen.

Welche langfristigen Folgen hat die Covid-Pandemie für unsere Gesundheitskosten?
Da wissen wir noch viel zu wenig. In diesem und im nächsten Jahr werden wir zusätzliche Auslagen wegen der Pandemie haben. Das sind kurzfristige Kosten, die wir aus den Reserven begleichen. Unklar ist aber, welchen Effekt Long-Covid haben wird. Ich befürchte, dass deswegen weitere Kosten auf uns zukommen werden.

Möglich wurden die mehrheitlich sinkenden Prämien, weil die Kassen ihre Reserven abbauen. Wie lange kann auf diese Weise eine Prämienerhöhung noch verhindert werden?
Wir sehen bei der Groupe Mutuel zwei Effekte: Wir haben eine leichte Senkung der Basisprämie im Durchschnitt um 0,3 Prozent. Dazu kommt die Rückerstattung von Reserven. Gesamthaft sinken bei uns die Prämien um 3,1 Prozent. Das ist meines Erachtens die grösste Senkung bei den grossen Versicherern. Wir haben in den letzten zwei Jahren mehr als 200 Millionen Franken an die Versicherten zurückbezahlt. Auch für 2023 und 2024 zahlen wir total 200 Millionen Franken zurück. Diese Massnahmen helfen, den Prämienanstieg zu stoppen oder zu dämpfen. Schlussendlich hängt die Prämienentwicklung aber von den Gesundheitskosten ab.

Diese steigen aber weiter. Was braucht es, damit die Gesundheitskosten nicht noch stärker in die Höhe gehen?
Es braucht dringend Massnahmen von allen Akteuren, um die Kosten zu bremsen.

Welche?
Es braucht eine einheitliche Tarifierung bei stationären und ambulanten Leistungen. Weiter sehe ich Sparpotenzial bei den Medikamentenpreisen. Generika sind bei uns im Vergleich zum Ausland noch viel zu teuer. Ausserdem werden von den Ärzten hierzulande viel zu wenig günstigere Nachahmerprodukte verschrieben. In Deutschland sind 80 Prozent der genutzten Medikamente Generika – bei uns nur 25 Prozent.

Was ist der Grund dafür?
Es gibt seitens der Ärzte weder eine Pflicht noch einen Anreiz, ein Generika zu verschreiben. Auch die Apotheken müssen keine Generika vorschlagen. Ein weiterer Kostentreiber sind die Spitäler.

Welchen Beitrag leistet die Groupe Mutuel, damit die Kosten nicht weiter steigen?
Am meisten dazu beitragen können wir durch eine strenge Kontrolle der Rechnungen. Darüber hinaus vereinfachen wir unsere internen Prozesse, um weitere Einsparungen möglich zu machen. Wir haben kein Interesse, dass die Prämien wieder steigen.

Allerdings kritisiert die Eidgenössische Finanzkontrolle die Krankenkassen, den Bund und die Kantone, weil sie die Wirksamkeit und Zweckmässigkeit der übernommenen Leistungen zu wenig überprüfen.
Ich nehme die Kritik entgegen, aber sie ist in dieser absoluten Form nicht richtig. Wir kontrollieren alle Rechnungen und haben bei der Groupe Mutuel allein im letzten Jahr mehr als 560 Millionen Franken durch diese Rechnungskontrolle eingespart – mehr als zehn Prozent der Kosten.

Ein Problem ist doch, dass in der Schweiz zu viel operiert wird, obwohl dies nicht immer zwingend notwendig ist. Was kann man dagegen tun?
Wir müssen unser System ändern. Heute ist es so, dass wir als Krankenversicherer für die Leistungen einen bestimmten Preis mal eine bestimmte Menge vergüten. Der Preis wird immerhin einheitlich definiert – die Menge indes nicht. Die Vergütung erfolgt auf der Basis der reinen Quantität und nicht der Qualität. Viel wichtiger wäre aber auch eine Qualitätskontrolle.

Vom Berater zum Chef

Thomas Boyer hat in Lausanne studiert und 1994 die HEC Lausanne, School of Business, mit einem Master abgeschlossen. Danach folgten vier Jahre als Berater bei McKinsey. 1998 begann er mit der Position als CFO von Swiss Life seine Laufbahn in der Versicherungsbranche. Weiter war er als Head of Distribution & Marketing bei der Groupe Mutuel, als CEO von Naville Detail, mit eigener Beratungsfirma und ab 2013 bei der Mobiliar als Leiter Vorsorge tätig. 2014 wurde er Verwaltungsrat der Groupe Mutuel, seit August 2019 leitet er die Geschicke des Versicherungsunternehmens als CEO.

Warum können Sie die Qualität nicht überprüfen und die Rechnungen nicht auch auf die Wirksamkeit und Zweckmässigkeit der ausgeführten Leistungen kontrollieren?
Im ambulanten Bereich kennen wir nicht einmal die vom Arzt gestellte Diagnose, und dennoch müssen wir die in Rechnung gestellten Leistungen vergüten. Wir sehen immer erst im Nachhinein, was durchgeführt wurde.

Fordern Sie, dass Sie künftig von den Ärzten in allen Fällen eine Diagnose erhalten?
Ja, das wäre sinnvoll. Nur so können wir beurteilen, ob eine Operation wirklich notwendig war oder nicht. Handlungsbedarf sehe ich zudem bei den Spitälern.

Müsste man Regionalspitäler schliessen, um die Kosten zu senken?
Auf jeden Fall. Allerdings weiss ich, dass dies in der Bevölkerung umstritten ist. Für mich ist klar, dass wir zu viele Spitäler in der Schweiz haben, und einige geschlossen werden sollten. Wir sind ein kleines Land. Da macht es keinen Sinn, wenn jeder Kanton die Spitalplanung isoliert durchführt, denn die Menschen bewegen sich in Regionen und nicht entlang der Kantonsgrenzen. Ich fahre lieber eine halbe Stunde länger, wenn ich dann die Gewissheit habe, dass ich eine bessere medizinische Leistung erhalte. 46 Prozent der Spitäler in der Schweiz erreichen die Mindestfallzahlen für bestimmte Operationen nicht. Das bedeutet, dass in einigen Spitälern die Qualität nicht gesichert ist. Die Spitaldichte in der Schweiz ist viel zu hoch. Zu viele Spitäler, die alle alles anbieten, sind schädlich für unser Gesundheitssystem.

Wie gesund ist denn unser Gesundheitssystem?
In der Corona-Krise hat sich das Gesundheitssystem bewährt. Qualitativ ist das System hervorragend. Alle haben Zugang zu guten Gesundheitsdienstleistungen. Aber die Kosten sind sehr hoch. Wenn wir die Kosten nicht unter Kontrolle bringen, werden die Prämien wieder steigen.

Nur wenn wir die Kosten im Griff behalten, können wir die hohe Qualität des Gesundheitssystem für alle aufrechterhalten. Nur schon die Tatsache, dass wir alle älter werden, führt zu mehr Kosten – auch die fortschreitende Technologisierung. Aber dass die Kosten steigen, weil zu viel operiert wird, ist nicht akzeptabel.

Seit zwei Jahren sind Sie CEO der Groupe Mutuel und haben die Strukturen verändert und das Unternehmen strategisch neu ausgerichtet. Wie weit sind Sie mit Ihrem Umbau?
Unser strategisches Ziel ist es, der Referenzpartner für Gesundheit und Vorsorge für Einzelkunden und Unternehmen zu sein. Wir sind im Markt der einzige Anbieter, der sowohl das Krankenversicherungs- als auch das Vorsorgegeschäft betreibt. Wir haben unser Unternehmen völlig neu ausgerichtet und sind jetzt voll in der Umsetzung. Noch vor einem Jahr hatten wir keinen eigenen Vertrieb. Heute haben wir schweizweit 200 Berater. Auch haben wir die Kundenzufriedenheit erhöht.

Phasenweise verlor die Groupe Mutuel aber Versicherte, weil sie die Prämien erhöhte.
In der Zwischenzeit haben wir unseren Kundenstamm stabilisiert. Wir haben heute 1,3 Millionen Privatkunden. Wir wachsen bei den Firmenkunden stark und haben 26 000 Unternehmen als Kunden. Und wir wollen auch in der Vorsorge weiter stark wachsen.

Die Groupe Mutuel ist der drittgrösste Krankenversicherer der Schweiz. Sie haben die Produktepalette neben der Gesundheit zusätzliche auf die Vorsorge ausgeweitet. Welche Pläne haben Sie in diesem Bereich?
Wir haben hier ein grosses Potenzial und zwar sowohl in der beruflichen Vorsorge, also der 2. Säule, als auch in der freiwilligen Vorsorge, der 3. Säule. In der beruflichen Vorsorge haben wir eine Stiftung gekauft und entwickeln weitere Produkte. Wir sind daran, auch im Vorsorgebereich unsere Präsenz in der Deutschschweiz auszuweiten.

Heisst das, dass Sie noch weitere Generalagenturen eröffnen werden?
Wir haben heute 13 Generalagenturen sowie 35 regionale Agenturen. Und ja, wir werden weitere Standorte eröffnen.

Das ist erstaunlich. Andere Versicherer setzen stärker auf digitale Kanäle und reduzieren ihre physischen Standorte.
Das tönt vielleicht altmodisch, aber wir sind überzeugt, dass es eine persönliche Beratung und damit physische Standorte braucht. Vieles kann man über die digitalen Kanäle zu wenig gut machen. Das bedeutet nicht, dass wir unsere digitalen Kanäle nicht forcieren. Aber die physische Präsenz hat für die Kunden in der Beratung gerade auch im digitalen Zeitalter eine hohe Bedeutung, und in einigen Regionen waren wir bisher noch nicht vertreten. Dies möchten wir nun ändern.

Wie nutzen Sie die Digitalisierung, um Ihre Wachstumspläne umsetzen zu können?
Wir nutzen die Digitalisierung, um unseren Kunden über unsere Gesundheits-Apps zusätzliche Präventionsdienstleistungen anbieten zu können sowie zur Effizienzsteigerung – also um Kosten zu sparen. Siebzig Prozent unserer Rechnungen werden digital bearbeitet.

Gesundheit und Vorsorge sind Themen, welche die Bevölkerung stark beschäftigen und wo es Reformen braucht. Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Das sind in der Tat die grössten Sorgen der Schweizerinnen und Schweizer. Während wir im Gesundheitssektor primär die Kosten senken müssen, braucht es in der Vorsorge zwingend eine politische Reform.

Über eine Reform der Altersvorsorge wird allerdings seit Jahren gestritten. Welcher Weg führt politisch zum Ziel?
Die Reformschritte, die momentan im Parlament diskutiert werden, kann ich grundsätzlich unterstützen. Es braucht dringend eine Reform. Problematisch sind die heute diskutierten Übergangsmassnahmen, die ich nicht unterstütze. Allerdings muss man sich vor Augen halten, dass die meisten Pensionskassen bereits wichtige Schritte umgesetzt haben – so etwa die Senkung des Umwandlungssatzes und des technischen Zinssatzes. Wenn wir nichts tun, sind die Pensionskassen nicht mehr in der Lage, langfristig ihre Rentenversprechen zu halten.

Deshalb machen sich viele Sorgen wegen ihrer Vorsorge. Wie sorgen Sie selbst für Ihr Alter vor?
Ich hatte schon mit 21 Jahren eine Säule 3a abgeschlossen und zahle seither in diese ein. Zusätzlich tätige ich freiwillige Einzahlungen in die Pensionskasse. Man sollte möglichst früh mit der eigenen Altersvorsorge beginnen, zumal sich dies auch steuerlich lohnt. Wenn man fünfzig oder älter, ist es meistens zu spät.

Wie halten Sie sich selbst fit?
Ich achte auf eine gute Work-Life-Balance. Meine Familie und meine Freunde sind mir sehr wichtig. Und ich bleibe immer offen für Neues. Das hilft mir, gesund zu bleiben.

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